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Der Hugenottenpsalter – seine Geschichte in Frankreich *

..... fester Bestandteil unserer Gottesdienste

 

Lilli Wieruszowski **

 

Claude Goudimel, der den vierstimmigen Satz zu unsern reformierten Psalmen schuf, hat sein Lebenswerk für die Kirche nicht vollenden dürfen. Über der Arbeit an seinen großen Psalmmotetten traf ihn das gewaltsame Ende: Schergen der Bartholomäusnacht, die, etwas später, auch in Lyon gewütet hat, erschlugen den damals schwer leidenden alten Mann und warfen ihn, vielleicht noch ehe er völlig verendet war, in die Saône. Der gewaltige dreiteilige Bau seiner Psalmvertonungen liegt dennoch klar vor unsern Augen: zuerst und zuletzt (denn er arbeitete vor seinem Tod noch daran) die monumentalen Motetten, man müsste eigentlich sagen: Chorphantasien über Weisen des Genfer Psalters, von denen 16 vollendet wurden; dann die gedrungeneren, aber immerhin noch reichlich kunstvollen Bearbeitungen der mittleren Zeit, ein vollständiger Motettenpsalter; endlich, Sinnbild einer immer vertieften Erfassung des reformierten Gemeindegedankens, die schlichten Kirchensätze der Edition Jaqui (Genf 1565), durch welche Goudimel noch uns Heutigen nah und wichtig ist.

Aber nicht im Vaterlande des Meisters, nicht in Frankreich, konnte sein Werk sich ausbreiten und auswirken, wenigstens nicht vor der jüngsten Zeitperiode. Den Psalmengesang Frankreichs haben wir uns in der Hauptsache einstimmig vorzustellen. Die Entwicklung geht nicht friedlich-folgerichtig vor sich wie etwa in der Schweiz; es kommt nicht zur langsamen Erarbeitung noch so schlichter vierstimmiger Sätze durch das Kirchenvolk. Der reformierte Psalter in Frankreich muss mit in die geheimen Gottesdienste, mit auf die öffentlichen Richtplätze. Auch er wird angebunden am Schandpfahl. Er muss zusammen mit den Bekennern den Feuertod erleiden. Und das Lied, mit dem sie sich in die Schlacht stürzten, diese alten Hugenotten des 16., 17. und noch des 18. Jahrhunderts, ist wohl nicht im saubern vierstimmigen Satz gesungen worden!

 

1523 werden zu Brüssel die ersten lutherischen Märtyrer, Voos und Esch – und noch im gleichen Jahr wird zu Paris der erste reformierte Märtyrer, J. Vallière, Augustinermönch wie jene, lebendig verbrannt. Im folgenden Jahr stirbt der Wollkämmer J. Leclerc aus Meaux (einer der frühesten und wichtigsten reformierten Gemeinden Frankreichs) den Feuertod. Während der unausdenkbar schrecklichen Marter, die er vorher noch durchmachen muss, hört er nicht auf, den Psalm 115 zu beten („ ... Jene Götzen aber sind Silber und Gold ... Israel aber hoffe auf den Herrn...“) –  nicht mit der Weise des Genfer Psalters, der ja damals noch nicht bestand, sondern „comme en chantand“, wie der Martyrolog des Crespin berichtet. Und mit dem Anstimmen gerade dieses Psalms, der mit den Worten beginnt „Nicht uns, Herr, nicht uns, sondern Deinem Namen gib Ehre ...“, hat Leclerc gleichsam die Überschrift gegeben zu dem großen Märtyrersang, der in Frankreich fast 250 Jahre lang selten zum Verstummen, manchmal aber zu tausendfachem Erklingen kommen sollte. Etwa 1533 ändert der König Franz I. seine Politik gegenüber den Evangelischen, die bis dahin eine Politik gleichsam der fahrlässigen Toleranz gewesen war, und es erfolgt von Paris aus eine Ausrottungsaktion, die noch unter seinem Nachfolger Heinrich II. nicht zur Ruhe kommt. Unzählige werden auf dem Scheiterhaufen zu Tode gebracht. In ihren geheimen Versammlungen hatten die Bekenner die Psalmen singen gelernt – genug Ausgaben des den Katholiken so verhassten Buches erschienen damals noch zu Paris, zu Lyon –, nun ist es das Stück Bibel, von dem sie sich erst mit dem letzten Atemzug trennen. Diese Märtyrer sangen gewiss auch die Psalmen der Klage. Aber, was für uns wichtiger ist zu wissen, sie sangen auch Psalm 118: „Dies ist der Tag, den der Herr macht“ – „La voici, l’heureuse journée que Dieu a fait à plain désir“ –, Psalmen der Freude und des Dankes. Sie sangen den 51. Psalm „Miséricorde au pauvre vicieux“, den Psalm der Buße. So wenig erhaben kamen sie sich vor, als sie für das Evangelium den qualvollsten Tod erlitten! Es sang auf dem Weg vom Gefängnis zum Richtplatz der Prediger Aymond de la Voye: „Quand Israel hors d’Egypte sortit“, den Psalm 114, der widerhallt vom erschrockenen Jubel des Gottesvolkes, das durch den Herrn selber unter großen Zeichen aus seiner Knechtschaft ausgeführt wird. Aus diesen Gesängen der Märtyrer entzündet sich ein „neues Lied“, ein neues Singen ohnegleichen.

Wir alle haben wohl schon etwas von der Ergriffenheit selbstlosen Singens in der Gemeinschaft spüren dürfen. Aber was sind alle unsere „Singbewegungserlebnisse“ gegen die Singbewegungen, wie sie damals im Frankreich des 16. Jahrhunderts aufbrachen?

Vielleicht hat das „neue Lied“ der urchristlichen Tage nicht heller, nicht geheimnisvoller geklungen als das wiedergefundene Lied der reformatorischen Tage. Das ist das Wunderbare, dass es so unvorbereitet, gleichsam über die Singenden weg, Wirklichkeit wurde, dass in Frankreich nicht einmal der Raum der Kirche zum Anlass werden musste, sondern auf Straßen, Plätzen, in den Schulhöfen, wo es grade war, Psalmsingen sich entfaltete. Den gewaltigsten Eindruck hat wohl das Singen auf dem „Pré au Clercs“ gemacht, einer beliebten Promenade der Pariser am Seineufer jenseits des Louvre. Das Volk, Studenten, Adlige, ja gekrönte Häupter, plötzlich singen sie alle – niemand weiß, wer eigentlich angefangen hat – miteinander unter freiem Himmel Psalmen. Tagelang braust es unstillbar weiter, über die Stadt hin: Psalmen – Psalmen aus dem Munde von Tausenden. König Heinrich II. liebte die Psalmen. Ihn selber hörte man wohl am Hof die Melodien leise vor sich hinsummen. Dies aber ist zuviel, er entsetzt sich, die Genfer Glaubenslieder so zu hören: da sie nicht mehr Kunst, da sie Bekenntnis geworden sind.

Um diese Zeit ist der Protestantismus in Frankreich soweit erstarkt, dass er endlich sich als Kirche darstellen und verfassen muss. Dies geschieht auf der Synode von Paris 1559. Calvins Kirchenordnung ist es, die der französische Protestantismus als die seinige anerkennt. Durch sie erhält das Psalmsingen bei den Reformierten seinen eisernen Grund. Der Genfer Psalter als „gesungenes Gebet“ (nach Calvins eigenem Ausdruck) gehört nun zur Kirchenliturgie, deren Annahme oder Verwerfung nicht im freien Belieben einer Gemeinde steht. Der Psalmengesang wird Teil einer Ordnung, deren Einhaltung Sache der Glaubenstreue ist. Eine Zeitlang sucht der Staat Verständigung mit dem Protestantismus, der in Frankreich nun bei 2500 Gemeinden umfasst. Das Januaredikt von 1562 gewährt den Evangelischen beschränkte Kultfreiheit. Aber beinahe zugleich gelangen auch die Guisen und mit ihnen die katholischen und spanienfreundlichen Einflüsse an die Macht. Sehr folgerichtig geht auf einen Herzog von Guise das Blutbad von Vassy zurück, ein Massaker an der ahnungslos Psalmen singenden Gemeinde, die dort in einer Scheune zum Gottesdienst versammelt war. Von dem Mord zu Vassy nimmt das jahrhundertelange Morden der Hugenottenkriege seinen Ausgang. Einer der besten Kenner unseres reformierten Psalters, Felix Bovet, sagt einmal, dass man einen Kalender der 10 (mit dem Cevennenkriege sind es 11) Hugenottenkriege machen könne, aus lauter Psalmen und Psalmversen, die mit den blutigen Ereignissen untrennbar verbunden sind. In diesem Religionskrieg – als solcher begann er wenigstens: um der bedrängten evangelischen Glaubensgenossen willen ließ sich der Admiral Coligny bewegen, sich an die Spitze der protestantischen Streitkräfte zustellen –, in diesem furchtbaren Ringen, das sich von 1562 bis 1704 hinzieht, waren Psalmen die Kriegslieder der hugenottischen Streitkräfte; Psalm 76 mit seiner herben, knappen Weise, der fröhliche Psalm 118 und noch mancher andere. Mehr als alle aber wird der Psalm 68 groß, die „Hugenotten-Marseillaise“, der „Psaume des Batailles“, dessen gewaltige Melodie, wo immer sie gesungen wird, wie ein Brand durch die Gemeinde fährt. Wir werden am Schluss dieser Ausführungen auf die Wirkungen des 68. Psalms noch zu reden kommen. Im Lager des Prinzen Condé wird vor und nach der Schlacht Andacht gehalten, mit Ansprache, Gebet, Gesang von Psalmen. Psalmen begleiten den Feldherrn D’Aubigné bei seinen tollkühnen Unternehmungen. Ein Psalmvers, den der Freund ihm zuspricht, tröstet den großen Coligny, da er bei Moncontour schwerverwundet aus der Kampflinie getragen wird.

Die ersten drei Kriege, 1562–1570, enden mit dem sehr günstigen Frieden von St. Germain en Laye, in welchem die Protestanten Gewissensfreiheit und gleiche politische Rechte erlangen, sowie jene „Festen Plätze“, von denen einige als Verlagsplätze für die Geschichte unseres Psalters von Bedeutung geworden sind, wie Saumur und vor allem La Rochelle. Dennoch wirkte in der Stille neben manch Persönlichem auch der alte Hass und Widerwille der Katholischen und der Anhänger einer spanischen Politik gegen die Hugenotten sich weiter aus. Nach zwei Jahren schon wurde den Protestanten die Bartholomäusnacht bereitet, in welcher sie ihren ersten Feldherrn, Coligny, und ihren bedeutendsten Künstler, Goudimel, verloren. Die Hugenotten werden in fünf weitere mörderische Kriege hineingerissen, bei denen die Beweggründe des Glaubens sich bis zur Unkenntlichkeit mit denen der Politik vermengen.

Das günstige Ende dieser Kriege ist das Duldungsedikt von Nantes 1598, erlassen vom Sohn der großen Protestantin Jeanne d’Albret, Heinrich IV., in dessen Lebensgeschichte trotz seines späteren Übertrittes zum Katholizismus der Psalter eine nicht geringe Rolle gespielt hat. Mit Nantes sind die Protestanten für eine Weile auf einigermaßen sichern Boden gestellt, sind geachtete Minderheit im Staat geworden. Es geht nun an eine friedlichen Ausbau der Kirche, der Gemeinde. „Die Bibel in guten Übersetzungen ist jedermann zugänglich, die Psalmen sind Gemeingut.“ (J. Chambon , Geschichte des französischen Protestantismus , München 1937). Es kommt nun endlich auch in den evangelischen Kreisen Frankreichs zu einer bürgerlich geselligen Musikausübung, wie sie die ganze Renaissance so reichlich hervorgebracht und so freudig gepflegt hat. An Sonntagen gewahrt man im Freien, in Wiese und Wald Innungsgenossen, die miteinander Psalmen singen und lesen und im Gespräch sich vergnügen. Töchter und Jungfrauen sitzen in Gärten beieinander und singen, vielleicht zur leise schwirrenden Begleitung der Laute oder zu der zart-verhängten der Viole, Psalmen und „geistliche liebliche Lieder“. Aber es kommt nicht zur rechten Entfaltung einer Musikkultur, vergleichbar derjenigen, die in der Schweiz geblüht hat. Die Bibliographie weist uns mit beredter Sprache den Weg der reformierten Kirchenmusik in Frankreich: im 16. Jahrhundert viele Ausgaben mehrstimmiger Bearbeitung der Psalmen von der Hand verschiedener bedeutender Meister, Anfang des 17. Jahrhunderts nur noch einige mehrstimmige Ausgaben der Psalmen von Claudin Le Jeune, neben Goudimel dem bedeutendsten Bearbeiter der Genfer Weisen in Frankreich; hernach nur noch einstimmige Editionen. Im 18. Jahrhundert erscheint in Frankreich keine einzige Ausgabe der Psalmen mehr, dafür erscheint der französische Psalter in Amsterdam, in London, in Berlin und in mehreren Städten der Schweiz (Genf, Lausanne) – Kirche in der Zerstreuung!

 

Kaum 25 Jahre der Ruhe sind den Hugenotten vergönnt, dann setzt die katholische (Kapuzinerpater Joseph) und die königliche (Richelieu) Gegenaktion gegen den protestantischen Staat im Staat wieder ein. Mandate verbieten das Psalmensingen in Straßen und Verkaufsläden, dann das Psalmensingen in den Häusern, sofern es so laut geschieht, dass man es auf der Straße hören kann, endlich das Psalmensingen überhaupt, mag es noch so sehr im Verborgenen vor sich gehen. Immer engmaschigere Verbote kennzeichnen die planmäßige Arbeit der Gegner, kennzeichnen aber auch die unerhörte Wichtigkeit des Psalters im Kampf um den Bestand der reinen Lehre. Bewaffneten Widerstand leisten vor allem die Protestanten Südfrankreichs unter der Führung der Herzöge von Soubise und von Rohan. Ihr Ende aber finden die Hugenottenkriege nach dem 9. und 10. Krieg im Friedensschluss von Alais [1629], mit welchem die politische Macht des französischen Protestantismus endgültig zerbrochen ist. Den Protestanten bleibt indessen unter Richelieu und unter dessen Nachfolger Mazarin noch einiger Atemraum – Raum genug, um ihren Überzeugungen zu leben. Aber auch in so engen Grenzen gehalten, werden sie für Ludwig XIV., der selbst eine geistliche Macht neben seiner Herrschermacht nicht mehr gewähren lassen kann, endlich untragbar.

Seit 1661 beginnen die großen Verfolgungen, die großen Auswanderungen („Réfugiés“). Stück um Stück wird das Duldungsedikt von Nantes fallen gelassen oder „neu ausgelegt“. Die evangelische Gemeinde, die Schule, das evangelische Elternhaus – alles wird bewacht, bedrängt, entmündigt. Die Gemeinde in ihrer großen Not gedenkt psalmsingend vergangener Drangsale, welche „die Kirche nicht übermocht haben“ (Psalm 129). Sie gedenkt der Siege der Väter unter dem Gesang von Psalm 44 und Psalm 46, dem Glaubenspsalm der Evangelischen von Luthers Tagen her, den erst Calvin, dann Marot der reformierten Kirche eigens neugeschenkt haben. Die Auswanderer, die nach schweren Mühsalen und Gefahren die Schweizer Grenze erreichten, sangen in der Freude ihres Herzens den Psalm 125: „Um Jerusalem sind Berge, und der Herr ist um sein Volk her ewiglich“, und beim Anblick der Stadt Genf, welche die irdische Heimat ihres beharrenden Glaubens war, den Psalm 26: „Herr, ich habe lieb die Städte deines Hauses ...“ – „Le saint et sacré lieu / où tu te tiens, mon Dieu / m’est précieux jusqu’au bout ...

Nach der förmlichen Aufhebung des Ediktes von Nantes (1685) wüten wieder die Verfolgungen mit unübertroffener Gewalt. In den ersten Zeiten waren die Bekenner evangelischer Lehre durch das Feuer bestraft worden. Nun wird das Wasser, wird die Galeerenstrafe ihr Los. An den Füßen zusammengeschmiedet mit ihren Leidensgenossen, häufig Schwerverbrecher und Muselmanen, getrennt von ihren Angehörigen und ihrer Heimat, mussten sie auf fremden Meeren die langen schweren Ruder bewegen. Aber den Trost, welchen der Glaube geben kann, hielten die Leidensgenossen auf den Galeeren gemeinsam fest. Ja mit starker gläubiger Bewusstheit organisierten sie sich selber gegen Ende des Jahrhunderts als die „leidende, schwimmende, gefesselte Kirche“, deren Mitglieder einander als „Pfarrer, Hirten, Seelsorger“ zu dienen versprachen, dazu auch sich verpflichten ließen auf strenge kirchliche Statuten, welche den „hilfreichen Kirchen in Genf und den protestantischen Kantonen der Schweiz zur Einsicht übersandt wurden“ (Chambon). Wo aber dergestalt reformierte Kirche war, da war Gesang der Psalmen. Und so dürfen wir uns vorstellen, dass sie, die auf den Galeeren ruderten, preisgegeben jeder Witterung, misshandelt von rohen Aufsehern, die oft selber in der furchtbaren Galeerenarbeit Mitleiden und Menschlichkeit verlernt hatten, wehrlos hingeopfert, wenn ihre Schiffe in Seekämpfen eingesetzt wurden – dass sie auf den fernen Meeren den Trost der vertrauten Psalmen nicht entbehrten, ja dass gerade bei der schweren und einförmigen körperlichen Arbeit, die sie zu leisten hatten, die Lieder ihnen wie von selbst und in endloser Wiederholung auf die Lippen gekommen sind.

In den durch Dragonaden und andere Zwangsmaßnahmen zum Übermaß gequälten Gegenden Südfrankreichs machen indessen krankhafte Strömungen sich geltend. Ganze Volksgruppen lauschen der „Predigt“ von Prophetinnen, die in schwärmerischen Worten die Wiederkunft des Herrn und das Nahen des Tausendjährigen Reichs ankündigen, und glauben selber in ekstatischen Zuständen mit der Überwirklichkeit in Berührung zu kommen. Einmal, in einem Dorf in Béarn, laufen die Menschen alle, Männer und Frauen, zusammen, um einer himmlischen Harmonie zu lauschen, die in den Lüften hörbar sein soll. Eine von denen, die dabei waren, bezeugt in einem Bericht, der auf uns gekommen ist, „vor Gott dem Herrn“, dass auch sie die wunderbare Musik vernommen habe, ganz deutlich seien die Weisen „unsrer Psalmen“ darin zu unterscheiden gewesen. Einige unter der Menge hätten sogar den 1.Vers des 42.Psalmes wiedererkannt, andere den ganzen Psalm. Sie aber, die Berichterstatterin, habe keine einzelnen Worte, sondern nur die Musik „als eine große Zahl sehr schön-harmonische Stimmen“ hören können. Mag das alles auch „Schwärmerei“ gewesen sein, gleichsam ein Fiebertraum der verstörten Gemüter, ergreifend bleibt es immerhin, dass Menschen, die um ihrer Zugehörigkeit zur reformierten Kirche willen ständig von Verlies, Galgen und Rad bedroht waren, in ihren Visionen von Kirchenliedern – und gerade von der lieblichsten aller Psalmmelodien heimgesucht wurden.

So furchtbar werden die Leiden der glaubenstreuen Evangelischen, dass es nun, 140 Jahre nach dem ersten Hugenottenkrieg, noch einmal zum sogenannten Cevennenkrieg kommt, der wieder Religionskrieg im strengen Sinne des Wortes ist: geführt vom Volk selbst – aus tiefer Not – um des Glaubens willen. Und wie dem ersten Hugenottenkrieg die starken Singbewegungen vorausgingen, so bricht nun noch einmal, vor dem elften und letzten Kriege, eine Welle des Singens auf, von der vornehmlich Kinder ergriffen werden. Jean Cavalier, der Held und Anführer des Cevennenkriegs, gibt uns selber in seinen Memoiren eine Schilderung dieser Bewegung. Ende des Jahres 1699 sollen etwa 20 Knaben vor dem Portal der Kirche zu Monteils bei Alais erschienen sein, um Psalmen zu singen. Kinder waren es, der Älteste nicht mehr als etwa 15jährig. Das ärgerte den Ortspriester, und er ließ ihnen solches Tun durch die Eltern verbieten. Aber nach zwei Wochen schon wiederholte sich das „Vergehen“, und der Priester, welcher die Eltern als die Anstifter bestrafen wollte, erhielt von den Kindern die Auskunft: ihre Väter und Mütter hätten von ihrem Tun nichts gewusst; sie selbst aber hätten nur beten wollen und Gottes Ehre preisen und würden das weiter tun, solange sie lebten. Darauf ließ der Priester einen Teil der Kinder ins Gefängnis abführen. Einigen aber gelang es zu entweichen; sie schlossen sich mit andern Jugendlichen zusammen und zogen weiter von einem Dorf ins andere. Da sie aber auch an den Heiligenbildern in den Kirchen sich vergriffen, wurden mehrere von ihnen wiederum gefangengenommen und sogar getötet; „der Rest floh in den Wald und fuhr dort fort, zu beten und Psalmen zu singen“ Diese Singbewegung ist dann in eine Art Erweckungsbewegung übergegangen, welche wiederum durch die kriegerischen Ereignisse, die sich von 1702–1704 hinzogen, abgelöst wurde. Derselbe Jean Cavalier, dem wir die Schilderung des Jugendsingens verdanken, berichtet uns auch in seinen Lebenserinnerungen sehr anschaulich von der Kampfweise der Hugenotten im Cevennenkriege: „In dem Augenblicke, da wir gegen den Feind gingen, oder da der Feind seinerseits uns angriff, betete einer unsrer Pastoren, an der Spitze der Abteilung stehend, mit uns und ermahnte uns, mutvoll zu kämpfen. Dann stimmten wir einen Psalm an und schwärmten talwärts in das niedere Hügelland unter uns zum Kampf aus ja wir sangen so, dass unser Lied, durch die Echostimmen der umliegenden Berge wiederholt und vervielfacht, unsre Feinde glauben machte, wir seien zahlreicher, als wir in Wirklichkeit waren, was sie mit Grauen erfüllte.“ Uns ist auch überliefert das Wort eines katholischen Offiziers, der während des Cevennenkrieges Dienst getan hatte: „Wenn diese Satanskerle anfingen ihr verdammtes Lied zu singen ‚Que Dieu se montre seulement’ (Psalm 68), waren wir nicht mehr Herr unsrer Leute. Sie flohen, als ob alle Teufel ihnen auf den Hacken säßen.“ (Chambon, Geschichte des französischen Protestantismus) Nach der Schlacht sammelten sich die Kämpfer wiederum zu Ansprache, Gebet und Psalmengesang. Im Cevennenkrieg sind die Protestanten trotz vielfacher Übermacht ihrer Gegner nicht eigentlich besiegt, wohl aber in ihrer Lebens- und Widerstandskraft so schwer erschöpft worden, dass menschliches Auge für eine Zeit kaum anderes wahrnehmen kann als des Propheten „Feld voller Totengebeine“ [Hes. 37]. Aber der Atem des Herrn hat, auferstehungswirkend, über dieses Feld hingeweht. Im Jahr 1715 ruft ein unbekannter 19jähriger Jüngling eine kleine Schar unbekannter Menschen zusammen: sechs Prädikanten, von den letzten, die in der Languedoc noch ihre Wirksamkeit ausübten, und drei Laien. In diesen paar Männern, die zur Nacht in einem Steinbruch der Languedoc versammelt sind, um unter Gebet zu beraten, wie die verstreute Gemeinde wieder gesammelt, durch kirchliche Ordnung verfasst und durchs Wort der Predigt von Irrtümern und Schwärmerei geläutert und im rechten Glauben gestärkt werden könne, in diesen armseligen Verfolgten, von denen die meisten später um des Glaubens willen am Galgen enden sollten, ist die reformierte Kirche Frankreichs wieder auf dem Plan. Von dieser Synode du Désert aus geht der Weg weiter, kann es wieder zu Missionsarbeit im eigenen Lande und damit zu einer Gesundung und kraftvollen Weiterentfaltung der Gemeinden kommen. Mit 15–20 Menschen hat dieser unbekannte Jüngling, Antoine Court, wieder Gottesdienste zu halten begonnen. Und diese zeugnishaften Assemblées du Désert (wirklich darf man die kahle, verlassene Landschaft der Cevennen mit diesem Namen bezeichnen) haben in der Folge bis zu 10.000, ja 30.000 Teilnehmer umfasst! Zu Beginn eines solchen Gottesdienstes wurde in ziemlich freier Form gesungen: ein Psalm wurde angestimmt, vielleicht vom Chantre, der mit seinem gewichtigen Psalmbuch den Takt angab, und dann noch einer, so lange, bis die Ältesten das Opfer für die Armen von allen eingesammelt hatten. Bei großen Assemblées mögen da viele Psalmen mit all ihren Versen gesungen worden sein. Es folgte die Predigt und hierauf die Feier des Heiligen Abendmahls. Den Beschluss bildete wiederum allgemeiner Psalmengesang. Es ist kaum vorstellbar, wie die alten großen Melodien damals geklungen haben: gesungen von den Unzähligen, die da in einer abgelegenen Waldschlucht oder in einer Felsgrotte versammelt waren, gesungen vor allem auch von unzähligen Männerstimmen, mit großer Inbrunst des Glaubens und in dem Bewusstsein, das gesungene Bekenntnis vielleicht mit einer schweren Geldbuße, vielleicht auch mit dem Verlust der Freiheit oder des Lebens bezahlen zu müssen.

 

Bis Mitte des Jahrhunderts dauern die Verfolgungen an, wiederholen sich die Leidenswege derer, die vor zwei Jahrhunderten sich zur reformierten Lehre bekannten. Immer wieder schreiten sie, schreiten vor allem die getreuen Prediger zum Galgen und sterben, wie Chambon sagt, „nach der alten schlichten Weise der Märtyrer des 16. Jahrhunderts, die Augen gen Himmel gerichtet, die alten Psalmen singend“. Und immer weiter schmachten die Frauen, die großen glaubenstreuen, in der „Tour de Constance“ der alten  Sumpfstadt Aigues Mortes. Jahr um Jahr weinen und welken sie dahin in dem schrecklichen Rundkerker, ohne das Wort des Widerrufs zu sprechen, das sie augenblicklich dem Leben und den Ihren zurückgeben würde. Es gibt solche unter ihnen, die als junge Mädchen, vielleicht um der Teilnahme an einer Assemblée willen, eingeliefert wurden und die noch als graue alte Frauen dort im Turm den reformierten Gottesdienst feiern, mit Gebet und Gottes Wort und mit Psalmengesang.

 

Am Ende des Jahrhunderts lassen die Verfolgungen endlich nach. Der Humanitätsgedanke der Aufklärungszeit formt an den Gesinnungen und den Gesetzen, und angesichts der wachsenden Entmächtigung des kirchlichen Gedankens wird Toleranz eine Selbstverständlichkeit. Das Duldungsedikt vom 17. November 1787 setzt dann den Glaubensverfolgungen ein völliges Ende. Mit dem Jahre 1823 erscheinen in Frankreich wieder Gesangbücher, Psalmen für die reformierte Kirche, meist in einer kleinen Auswahl (50 oder weniger) und in Verbindung mit freien geistlichen Liedern, wie es bisher Sitte geblieben ist. Die Kirche und ihr Psalter haben Not und Verfolgung überlebt.

 

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* Teil aus einer Folge von Aufsätzen zur Geschichte des reformierten Psalters, der im Kirchenblatt für die reformierte Schweiz, Jg.96 (1940) erschien.

 

** Die Organistin und Komponistin Lili Wieruszowski (1899-1971) lebte seit 1933 als deutsche Emigrantin in Basel. Sie ist eine der 4 Töchter der Frauenrechtlerin Jenny Wieruszowski. Ihre Eltern waren konvertierte Juden. Sie studierte Musik in Köln und Berlin. 1925 wurde sie in der Epiphaniengemeinde Berlin-Charlottenburg angestellt und fand viel Beachtung für ihr virtuoses Orgelspiel.

In Basel machte sich Lilli Wieruszowski auch als Komponistin einen Namen, beispielsweise durch die Choralvorspiele für Orgel zu Hugenottenpsalmen

 

   

 

Stand: 19. Februar 2020

 

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